Orbáns Europa-Vision: Mehr de Gaulle, weniger Churchill
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán plädierte in seiner Zürcher Rede für die Emanzipation Europas von Washington und gegen die Zentralisierung in der EU.
Anlässlich des 90. Geburtstags der Wochenzeitung «Die Weltwoche» wurde der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán am 22. November nach Zürich eingeladen, um eine Rede zu halten. Die Veranstaltung mit dem Titel «Zürcher Rede» sollte an Winston Churchills historische Rede an der Universität Zürich vom Jahr 1946 erinnern. Diesmal fand das Referat jedoch nicht in der Aula der Universität, sondern in der «Gallery» des Luxushotels «The Dolder Grand» statt.
Orbán nutzte die Gelegenheit und traf sich einen Tag zuvor mit dem Schweizer Bundespräsidenten Alain Berset und dem Schweizer Aussenminister Ignazio Cassis. Thema der Gespräche waren unter anderem die Beziehungen zur Europäischen Union.
Die Weltwoche-Jubiläumsveranstaltung verzeichnete eine hohe Besucherzahl. Über 500 Menschen füllten den Saal. Prominente Persönlichkeiten wie die beiden Alt-Bundesräte Ueli Maurer und Christoph Blocher nahmen an der Veranstaltung teil. Ebenfalls anwesend waren der ehemalige tschechische Ministerpräsident Václav Klaus, der ungarische Physik-Nobelpreisträger Ferenc Krausz sowie die deutsche Fürstin Gloria von Thurn und Taxis.
In seiner Rede wurden neben einleitenden Worten vier grosse Themen angesprochen. Zu Beginn erwähnte Orbán, dass Europa seine Selbstbestimmungsfähigkeit verloren habe. Mittlerweile würden die Vereinigten Staaten Europa dominieren. Anschliessend thematisierte er die Bürokratie in Brüssel und kritisierte dabei die aktuelle politische Führung in Europa. Er bezeichnete dies als das «Brüsseler Europa-Modell». Als Alternative zu diesem Modell stellte er das «ungarische Europa-Modell» vor. Zum Schluss seines Referats erklärte Orbán, welche Massnahmen die EU treffen müsste, um ihre grossen Probleme zu bewältigen.
Europas verlorene Selbstbestimmungsfähigkeit
Gleich zu Beginn, nach seinen einleitenden Worten, sprach Orbán Klartext: «Europa hat die Selbstbestimmungsfähigkeit verloren.» Einerseits sei es nicht in der Lage zu definieren, was seine Ziele sind. Andererseits wisse es nicht, welche Mittel genutzt werden müssen, um diese Ziele zu erreichen.
Europa wäre noch vor dem 2. Weltkrieg in der Lage gewesen, über sein eigenes Schicksal zu bestimmen. Orbán kritisierte, dass diese Chance nicht genutzt worden sei. Stattdessen hätten die europäischen Völker ihre Ressourcen genutzt, um übereinander herzufallen. Dies hätte dazu geführt, dass Europa sich nachhaltig geschwächt hat und aussereuropäische Mächte gestärkt wurden. Die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion hätten davon profitiert.
Während der westliche Teil Europas unter amerikanische Besatzung gekommen wäre, hätte die UdSSR den östlichen Teil besetzt. Westeuropa hätte lange Zeit von der US-amerikanischen Hegemonie profitiert. In Osteuropa wäre dies nicht der Fall gewesen. Die sowjetische Besatzung hätte zu Diktatur, Unmenschlichkeit, wirtschaftlichem Rückstand und Verarmung geführt, während die amerikanische Dominanz im Westen lange Zeit Vorteile gebracht hätte.
Der Marshall-Plan der USA habe zu einer Wiederbelebung Europas geführt. Während dieser Zeit hätten die europäischen Spitzenpolitiker vor der intellektuellen Herausforderung gestanden, die neue Rolle Europas in der Nachkriegsordnung zu definieren. Europa wäre damals mit der Frage konfrontiert gewesen, wie es seine Eigenständigkeit vor dem Hintergrund der vorherrschenden angelsächsischen Sitten und Gebräuche bewahren konnte. Die Lösung für die Herausforderungen des Wettbewerbs und des Gemeinwohls hätte in der Etablierung der christlichen Demokratie bestanden.
Zu Beginn der 1990er-Jahre, am Ende des Kalten Krieges, hätten die USA eine dominante Position eingenommen. Die progressiv-liberalen Kräfte hätten allmählich die christlich-konservativen Kräfte abgelöst. Europa würde aufgrund der neuen Hegemonie der progressiv-liberalen Kräfte von der amerikanischen Position dominiert werden. Orbán betonte, dass Europa seine strategische Souveränität bewahren müsse. Zudem müsse es seine politische Klarsicht und Handlungsfähigkeit wiedererlangen, um die eigenen Interessen im westlichen Bündnis zu vertreten. Inzwischen hätte Europa seine Souveränität aufgrund ihrer Abhängigkeit von den USA verloren.
Laut Orbán würden die Vereinigten Staaten eine Aussenpolitik vertreten, die universelle Werte propagiere, aber in Wirklichkeit eigene Interessen verfolge. Europa hätte diese Haltung von den USA übernommen. Wenn von europäischen Werten gesprochen werde, seien damit in Wahrheit europäische Interessen gemeint. Diese Doppelzüngigkeit führe dazu, dass über aussenpolitische Fragen nicht mehr vernünftig diskutiert werden könne. Wenn man stattdessen von Interessen statt von Werten spreche, könnten sich die Staaten untereinander besser verständigen.
Dies erinnert sehr stark an Egon Bahrs berühmte Worte: «Wenn ein Politiker anfängt, über 'Werte' zu schwadronieren, anstatt seine Interessen zu benennen, wird es höchste Zeit, den Raum zu verlassen.» Bahr war einer der Vordenker und führenden Mitgestalter der deutschen Ostpolitik («Wandel durch Annäherung»), die von der Brandt-Regierung im Jahr 1969 begonnen wurde.
Die USA hätten in den letzten 30 Jahren durch ihre expansionistische Aussenpolitik und den Export von liberal-konservativen Werten viele Kriege verursacht. Dadurch sei im nicht-westlichen Teil der Welt eine wachsende Feindseligkeit gegenüber den USA entstanden. Gleichzeitig sei China, das ins Freihandelssystem eingestiegen ist, als grosse Macht aufgestiegen. Mittlerweile gelte China als Vertreter der vom Westen abgeschreckten und traumatisierten Staaten. Orbán verwies in diesem Zusammenhang auf den US-amerikanischen Politikwissenschaftler Samuel Huntington. Dieser behauptete, dass wenn die USA damit weitermachen würden, die Welt zu «verwestlichen», dies dazu führen würde, dass sich die gesamte nicht-westliche Welt gegen sie wende. Diese Abneigung könne von China in der internationalen Politik genutzt und adressiert werden. Die Vereinigten Staaten seien im Begriff, weltweit an Einfluss zu verlieren. Da Europa «gekettet» an die USA sei, würde es ebenfalls an Einfluss verlieren.
Orbán warf die Frage auf, was passieren würde, wenn die USA ihren aussenpolitischen Kurs ändere und verwies dabei auf den Ukraine-Krieg. Was würde passieren, wenn die Republikaner an die Macht kommen und sich aus der Ukraine zurückziehen? Europa wäre dann in diesem geopolitischen Konflikt komplett auf sich allein gestellt. Es müsste die finanziellen Lasten, die der Krieg mit sich bringt, dann alleine tragen. Orbán warnte davor, dass Europa dabei sei, zu verarmen.
Das Brüsseler Europa-Modell
Nicht nur die starke Abhängigkeit Europas von den Vereinigten Staaten wurde kritisiert, sondern auch die wachsende Bürokratisierung und Zentralisierung der EU-Politik. Europa habe ein grosses Problem mit seiner politischen Führung. Orbán skizzierte dabei das gegenwärtige «Brüsseler Europa-Modell».
Entscheidungen würden zunehmend von den Brüsseler Institutionen getroffen, anstatt von nationalen Politikern. Die Aufgabe der Institutionen sollte es eigentlich sein, die Entscheidungen der Politiker umzusetzen, anstatt eigenmächtig Entscheidungen zu treffen.
Es entstehe oft der Eindruck, dass die EU von der Kommission und ihrer Präsidentin, Ursula von der Leyen, geführt werde. Eigentlich sollte die Kommissionspräsidentin eine Angestellte sein, die die Aufgabe hat, die Entscheidungen der nationalen Politiker und Regierungen umzusetzen. Als José Manuel Barroso Präsident der EU-Kommission war, wäre die Kommission lediglich eine Bürokratie gewesen, die die Entscheidungen ausführte. Als Jean-Claude Juncker an die Macht kam, hätte ein Wandel stattgefunden. Die EU sollte von einer ausführenden Bürokratie in eine politische Körperschaft transformiert werden. Orbán bezeichnete die EU als eine Schönwetter-Bürokratie, die nur in guten Zeiten die politischen Angelegenheiten managen könnte.
In Krisenzeiten bräuchte es in der Politik jedoch starke Führungspersönlichkeiten. Orbán argumentierte, dass Politiker die Fähigkeit hätten, Veränderungen herbeizuführen und Rahmenbedingungen neu zu definieren. Dies sei bei bürokratischen Institutionen nicht der Fall.
Als ob diese Machtverschiebung in Richtung der Bürokraten nicht problematisch genug wäre, würden die Politiker zunehmend von Bürokraten verdrängt, die eine progressiv-liberale Agenda verfolgen. Diese Agenda sei laut Orbán ebenfalls aus den Vereinigten Staaten importiert worden.
Er plädierte dafür, dass es in Europa wieder starke nationale Führungspersönlichkeiten brauche. Dabei würde Mitteleuropa, einschliesslich, in dieser Situation eine besondere Verantwortung tragen.
Das ungarische Europa-Modell
Ungarn habe im Gegensatz zu Brüssel ein völlig anderes Europa-Modell. Orbán nannte es das «ungarische Europa-Modell».
Ungarn lehne das Konzept des Wohlfahrtsstaates ab. Wohlstand müsse zuerst durch Leistung erarbeitet werden. Es sei nicht Aufgabe des Staates, den Wohlstand zu garantieren, wie es in Westeuropa üblich sei. Laut Orbán habe dies auch einen wichtigen Einfluss auf die Zuwanderung:
Migranten kommen nicht nur deshalb nicht nach Ungarn (…) , weil wir an der Grenze einen riesigen Zaun haben, um sie aufzuhalten. (…) Das ist ein Grund, aber sie kommen auch deshalb nicht, weil die Gesetze in Ungarn besagen, dass ein Migrant in Ungarn sozial nur das bekommen kann, was ein ungarischer Staatsbürger bekommt. Da bei uns alles an Arbeit gekoppelt ist, ist unsere Anziehungskraft eher bescheiden.
Ungarn würde den demografischen Herausforderungen durch Familienpolitik begegnen. Eine Wende in der Familienpolitik sei erreicht worden. Ob eine demografische Wende erreicht werden könnte, würde sich in der Zukunft zeigen. Ungarn gäbe in Bezug auf das Bruttoinlandsprodukt am meisten für Familienpolitik in Europa aus. Die grosse Frage sei, ob es Ungarn schaffen würde, die Bevölkerung aus eigener Kraft aufrechtzuerhalten.
Ungarn setze auf niedrige Steuern («Flat Tax»). Alle würden 15 Prozent zahlen. Personen, die Kinder haben, würden sogar weniger zahlen. Es gäbe keine Erbschaftssteuer. Die Körperschaftssteuer läge unter 10 Prozent, die niedrigste in ganz Europa. Die komfortablen Steuerbedingungen hätten dazu geführt, dass viele ausländische Direktinvestitionen nach Ungarn strömen. Allerdings ist der Vollständigkeit halber zu erwähnen, dass die Mehrwertsteuer bei 27 Prozent liegt.
Die Genderpolitik stehe in Ungarn nicht an der Tagesordnung. Stattdessen würden die Interessen der Familie gefördert. Ungarn sei ein altkonservatives Land. Die Verfassung sehe vor, dass die Ehe einen Mann und eine Frau braucht sowie der Vater ein Mann und die Mutter eine Frau ist.
Das ungarische Modell lehne eine Blockbildung ab. Eine wirtschaftliche Trennung zwischen Ost und West sollte laut Orbán vermieden werden. Stattdessen sollte eine Strategie verfolgt werden, bei der Unternehmen aus östlicher und westlicher Technologie in Ungarn zusammenkommen und gemeinsam Produkte entwickeln. In Ungarn würden beispielsweise deutsche und chinesische Unternehmen gemeinsam Produkte entwickeln.
In Ungarn gäbe es zwar einen Pluralismus an politischen Strömungen, aber keine progressiv-liberale Hegemonie. Bei der Europa-Frage vertrete Ungarn einen souveränistischen Standpunkt.
Trotz Zweifeln habe sich das ungarische Modell als erfolgreich erwiesen, mit Rekorden in Investitionen, Beschäftigung und Export. Ungarn rangiere weltweit hoch in Exportvolumen und bestimmten Technologien. Ungarn hätte trotz politischer und finanzieller Sanktionen der EU ein erfolgreiches Modell für Europa, obwohl ihnen milliardenschwere Beträge fehlen, die ihnen eigentlich zustehen würden.
Was müsste die EU tun?
Gemäss Orbán sei Einigkeit in der Europäischen Union erforderlich. Die EU sollte sicherstellen, dass sie auf einen möglichen Rückzug der USA aus Europa vorbereitet ist. Es sei wichtig, sich ernsthaft mit der Schaffung von militärischen, wirtschaftlichen und Rüstungsgarantien auseinanderzusetzen. Darüber hinaus sollte man sich endlich von den postmodernen Theorien lossagen. Es bedürfe einer Rückkehr zur europäischen Führungskultur im klassisch politischen Bereich.
Junge Politiker müssten laut Orbán ins kalte Wasser geworfen werden, damit sie lernen, wie man «schwimmt». Ohne diesen Ansatz gäbe es keine junge, konservative Politikergeneration in Europa.
Europa müsse endlich wieder die Kontrolle über seine eigenen Grenzen zurückgewinnen. Orbán betonte die Wichtigkeit der christlichen Kultur und dass das Christentum wieder einen Stellenwert in Politik und Gesellschaft haben sollte. Aus seiner Sicht bilde das Christentum eine wichtige Grundlage für eine freiere und erfüllendere Welt.
Europa der Vaterländer versus die Vereinigten Staaten von Europa
Am 19. September 1946 hielt Winston Churchill seine berühmte «Zürcher Rede» in der Aula der Universität Zürich. Der Zweite Weltkrieg war vorbei. Europa lag komplett in Trümmern. Vor diesem Hintergrund versuchte der damalige britische Oppositionsführer, die Zukunft und Nachkriegsordnung in Europa zu skizzieren. Churchill hatte die Vision einer Art Vereinigten Staaten von Europa, in denen Freiheit, Frieden und Sicherheit gewährleistet werden sollten. Die vielen europäischen Nationalstaaten sollten schrittweise durch einen Kontinentalstaat abgelöst werden. Interessanterweise sollte laut Churchill das Vereinigte Königreich nicht Teil der Vereinigten Staaten von Europa werden. Allerdings würde es dem Projekt unterstützend zur Seite stehen. Das langfristige Ziel formulierte Churchill wie folgt:
Unser beständiges Ziel muss sein, die Vereinten Nationen aufzubauen und zu festigen. Unter- und innerhalb dieser weltumfassenden Konzeption müssen wir die europäische Völkerfamilie in einer regionalen Organisation neu zusammenfassen, die man vielleicht die Vereinigten Staaten von Europa nennen könnte.
Er war nicht nur ein Befürworter der Vereinten Nationen, die die Notwendigkeit einer internationalen Organisation betrafen, in der das Völkerrecht durchgesetzt und Kriege verhindert werden sollten. Seine Forderungen gingen noch viel weiter. Am 14. Mai 1947 hielt er in der Albert Hall in London eine Rede, in der er erneut den Aufbau der Vereinigten Staaten von Europa thematisierte. Der europäische Kontinentalstaat sollte gemäss Churchill ein wichtiger Schritt zu einem allumfassenden Weltstaat («world government») darstellen:
Wir geben natürlich nicht vor, dass ein vereinigtes Europa die endgültige und vollständige Lösung für alle Probleme der internationalen Beziehungen bietet. Die Schaffung einer autoritativen, allmächtigen Weltordnung ist das ultimative Ziel, auf das wir hinarbeiten müssen. Ohne eine effektive Welt-Superregierung, die schnell eingerichtet und in Aktion gebracht werden kann, sind die Aussichten auf Frieden und menschlichen Fortschritt düster und zweifelhaft.
Aber lassen Sie keinen Fehler in der Hauptfrage aufkommen. Ohne ein vereintes Europa gibt es keine sichere Aussicht auf eine Weltregierung. Es ist der dringende und unverzichtbare Schritt zur Verwirklichung dieses Ideals. (…)
Churchill hatte also die schrittweise Abschaffung der Nationalstaaten in Europa und die politische Globalisierung im Sinn. Aus heutiger Sicht scheint seine Vision Früchte zu tragen. Die Souveränität der EU-Mitgliedsstaaten verlagert sich zunehmend nach Brüssel. Die Nationalstaaten verlieren peu à peu ihre Selbstbestimmung. Auch das Konzept einer Weltregierung scheint mittlerweile in greifbarer Nähe zu sein. Beispielsweise plant die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Verabschiedung eines Pandemievertrags und die Überarbeitung ihrer Gesundheitsrichtlinien. Diese sehen vor, dass die WHO im Falle eines gesundheitlichen Notstands eigenmächtig entscheidet, welche gesundheitspolitischen Massnahmen zu ergreifen sind. Die Mitgliedsstaaten der WHO können also nicht mehr über ihre eigene nationale Gesundheitspolitik bestimmen.
Ganz anders als Churchill sah es Charles de Gaulle. Er führte während des Zweiten Weltkriegs den französischen Widerstand gegen die Nationalsozialisten an. Er gilt als Hauptinitiator der «Fünften Republik» in Frankreich und war von 1959 bis 1969 Präsident von Frankreich. Seine Vision von Europa stand diametral zu dem, was Churchill im Blick hatte.
De Gaulle war ein glühender Verfechter eines «Europa der Vaterländer», auch wenn er den Begriff nie selbst in seinen Reden erwähnt hat. Die Wortschöpfung wird ihm fälschlicherweise zugeschrieben. Er sah ein Europa vor, in dem die Nationalstaaten zusammenarbeiten, ohne dass ihre Souveränität beeinträchtigt wird. Supranationale Institutionen und die Vergemeinschaftung von staatlichen Aufgaben sollten keine Rolle spielen. Der Nationalstaat sollte der Kern jeder Vereinigung sein und nicht in europäischen Unionsbestrebungen aufgehen. De Gaulle bezeichnete ein supranationales Gebilde einst als «ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht».1 In einer Pressekonferenz am 5. September 1960 skizzierte er seine Vision folgendermassen:
Die Schaffung Europas, das heisst seine Einigung, ist sicherlich eine wichtige Sache … Warum sollte dieser grosse Herd der Zivilisation, der Stärke, der Vernunft und des Fortschritts unter seiner eigenen Asche erlöschen? Allerdings darf man auf einem solchen Gebiet nicht Träumen nachhängen, sondern muss die Dinge so sehen, wie sie sind. Welches sind die Realitäten Europas und die Eckpfeiler, auf denen man weiterbauen könnte? In Wirklichkeit sind es die Staaten … Es ist eine Schimäre, zu glauben, man könne etwas Wirksames schaffen und dass die Völker etwas billigen, was ausserhalb oder über dem Staate stehen würde … Gewiss trifft es zu, dass, bevor man das Europa-Problem in seiner Gesamtheit behandelt hat, gewisse mehr oder weniger supranationale Einrichtungen geschaffen werden konnten. Diese Einrichtungen haben ihren technischen Wert, aber sich haben und können keine Autorität und politische Wirksamkeit besitzen … Frankreich hält die Gewährleistung der regelmässigen Zusammenarbeit der europäischen Staaten für wünschenswert, möglich und praktisch auf dem Gebiet der Politik, der Wirtschaft, der Kultur und der Verteidigung … Das erfordert ein organisiertes, regelmässiges Einvernehmen der verantwortlichen Regierungen und die Tätigkeit von den Regierungen unterstellten Spezialorganisationen auf jedem der gemeinsamen Gebiete.
Neben seiner sehr skeptischen Haltung gegenüber einer europäischen Integration pflegte de Gaulle ein äusserst stiefmütterliches Verhältnis zum transatlantischen Militärbündnis NATO. Während der Präsidentschaft von John F. Kennedy strebten die USA im Rahmen der NATO-Doktrin «Flexible Response» danach, im Ernstfall die Kontrolle über alle Atomwaffen aller Mitgliedsstaaten des Bündnisses zu haben. Für de Gaulle war dies jedoch ein absolutes No-Go. Das Verhältnis zwischen Frankreich und der NATO war derart schlecht, dass Frankreich im Jahr 1966 vorübergehend aus den integrierten Militärkommandos der Allianz austrat. De Gaulles Frankreich betrachtete das «unterwürfige» Verhalten der britischen Regierung gegenüber den NATO-Avancen der Vereinigten Staaten als Gefahr für seine Vision von Europa. Das Vereinigte Königreich wurde als «trojanisches Pferd» der USA angesehen.2
De Gaulle war nicht nur ein ausgesprochener NATO-Skeptiker, sondern wollte auch, dass sich Europa von der Einflusssphäre der Vereinigten Staaten löst. Bei einem Treffen zwischen ihm und dem deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer am 15. September 1958 forderte er: «Wir müssen Europa (...) von den Vereinigten Staaten unabhängig machen.»
Wir halten fest: De Gaulle befürwortete einerseits ein Europa, in dem souveräne Nationalstaaten ohne supranationalen Überbau zusammenarbeiten. Andererseits forderte er ein emanzipiertes und souveränes Verhältnis zu den Vereinigten Staaten.
Damit kommen wir zurück zu Orbáns Rede. Auffällig ist der Kontrast, den Orbáns Zürcher Rede im Vergleich zur Zürcher Rede von Churchill bildet. Churchill forderte die Abschaffung der Nationalstaaten und die Errichtung eines europäischen Superstaats. Orbán vertrat einen völlig anderen Standpunkt. Er kritisierte in seinem Referat die wachsende Zentralisierung in der EU und die zunehmende Machtverschiebung von den Mitgliedstaaten zu den Brüsseler Institutionen. Wochen vor seinem Auftritt in Zürich sprach er in einem Fernseh-Interview darüber, dass die Bürokraten in Brüssel in der Tasche einer globalistischen Elite stehen würden.
Die Führung, die heute in Brüssel ist, erfüllt den Auftrag einer globalistischen Elite, daher sind sie nicht unsere Leute. Das Volk möchte keine Migration. Sie wollen keinen Krieg; sie wollen keine Unruhen. Sie möchten einen gut geplanten grünen Übergang, der ihre Industrien nicht zerstört. Ich kann Ihnen viele Beispiele geben. Daher kann ich mit Sicherheit sagen, dass die Führung, die heute in Brüssel ist, von einer globalistischen Elite, von Finanzgruppen, von grossen wirtschaftlichen Machtgruppen erfasst ist und ihre Entscheidungen durch die Interessen dieser Gruppen motiviert werden, nicht durch die Interessen der ungarischen, deutschen, französischen oder sogar italienischen Bevölkerung. Deshalb müssen wir einen Wandel herbeiführen.
Orbán lehnt den politischen Globalismus ab, wie es Churchill in seiner Rede an der Universität von Zürich und auch in der Rede in der Albert Hall in London vorschwebte. Er pocht auf die nationale Souveränität seines eigenen Landes. Die eigenständige Migrationspolitik und der aussenpolitische Kurs im Ukraine-Krieg bringen dies beispielsweise zum Ausdruck. Jedoch befürwortet er den wirtschaftlichen Austausch auch mit Staaten jenseits der Einflusszone des Westens. Im Gegensatz zu Churchill ist Orbán kein Kalter Krieger.
Ebenso auffällig ist die grosse Schnittmenge zwischen Orbáns Vorstellung von Europa und de Gaulles Europa-Vision. Ähnlich wie de Gaulle forderte Orbán eine Emanzipation Europas von den Vereinigten Staaten. Im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg ist zu beobachten, dass Ungarn unter Orbán innerhalb der NATO derzeit einen eigenständigen Kurs verfolgt. Ungarn hat sich weder an den Wirtschaftssanktionen gegen Russland noch an den Waffenlieferungen in die Ukraine beteiligt. Allerdings ist anzumerken, dass Orbán im Gegensatz zu de Gaulle nicht so weit geht, mit einem Austritt aus der NATO zu kokettieren. In der nach der Rede folgenden Diskussionsrunde mit Roger Köppel, erwähnte er, dass er Ungarn eher als einen eigenständigen Akteur innerhalb eines Allianzsystems sieht. In diesem System sollte Ungarn seine Unabhängigkeit so weit wie möglich bewahren.
In seiner Rede betonte Orbán, dass Ungarn in der Europa-Frage einen souveränistischen Standpunkt vertrete, was eine weitere Gemeinsamkeit mit de Gaulles «Europa der Vaterländer» darstellt. Orbán kritisierte die wachsende Zentralisierung in der EU und dass die Brüsseler Bürokraten zunehmend das Sagen hätten, während nationale Politiker und Regierungen immer weniger Einfluss hätten. Sowohl Orbán als auch de Gaulle stehen (beziehungsweise standen) den supranationalen europäischen Institutionen sehr skeptisch gegenüber. Auch hier geht jedoch Orbán nicht so weit, und würde einen EU-Austritt in Erwägung ziehen, wie es de Gaulle eventuell getan hätte. Der Zugang zum EU-Binnenmarkt sei für Ungarn lebenswichtig. Daher ist in absehbarer Zeit ein «Hunxit» eher unwahrscheinlich.
Summa summarum lässt sich festhalten, dass das von Orbán umrissene «ungarische Europa-Modell» eindeutig dem «Europa der Vaterländer» von de Gaulle näher liegt als Churchills «Vereinigten Staaten von Europa». Churchills Vision von Europa weist dagegen eher Ähnlichkeiten mit dem «Brüsseler Europa-Modell» auf. Mit anderen Worten: Orbán plädierte an seiner Rede für mehr de Gaulle und weniger Churchill.
Orbáns Zürcher Rede, einschliesslich der anschliessenden Podiumsdiskussion, kann hier nachgeschaut werden:
Hofbauer, Hannes: Europa. Ein Nachruf, 1. Auflage, Wien 2020, S. 104.
Ebenda, S. 103-104.