Hamas-Terrorattacke: Hat Israel den Angriff absichtlich zugelassen?
Wie ist es möglich, dass das Militär und die Geheimdienste Israels nicht in der Lage waren, den Anschlag der Hamas-Terroristen zu verhindern? Handelt es sich um ein Totalversagen oder um Vorsatz?
Am 7. Oktober griff die islamistische Terrororganisation Hamas Israel an. Sie begann den Angriff mit einem Raketenbeschuss vom Gazastreifen aus. Anschliessend drang sie in israelisches Staatsgebiet ein, indem sie die Sperranlagen um den Gazastreifen überwand. Dabei wurden etwa 1300 Menschen getötet und mehrere Tausend verletzt. Zudem wurden circa 240 Menschen nach Gaza entführt.1
Wie konnte Israel diesen beispiellosen Terroranschlag gegen Zivilisten zulassen? Die Grenze zum Gaza-Streifen wird als eine der am strengsten bewachten Grenzen der Welt gehandelt. Der Mossad gilt als einer der besten Nachrichtendienste weltweit. In der offiziellen Lesart heisst es, dass Israel am 7. Oktober völlig überrascht wurde. Politik und Leitmedien sprechen von einem Totalversagen der israelischen Armee und Nachrichtendienste. In den letzten zwei Wochen tauchen jedoch zunehmend Indizien auf, die dieses Narrativ konterkarieren oder zumindest einige Fragezeichen aufwerfen.
Viele Ungereimtheiten beim Terroranschlag
Zu den kritischen Stimmen gehört Efrat Fenigson, eine israelische Journalistin, ehemalige Soldatin der Israeli Defense Forces (IDF) und Sicherheitsexpertin. Sie behauptete in einem viral gewordenen Video auf der Social-Media-Plattform X, dass es keine Möglichkeit gäbe, dass Israel den Angriff nicht erwartet hätte:
Vor 25 Jahren diente ich im Geheimdienst der IDF. Es ist unmöglich, dass Israel nicht wusste, was kommen würde. Eine Katze, die entlang des Zauns läuft, löst alle Kräfte aus. Und hier? Was ist mit der 'stärksten Armee der Welt' passiert? Wie konnten die Grenzübergänge so weit offen sein? Etwas stimmt hier überhaupt nicht, etwas ist sehr merkwürdig. Diese Ereigniskette ist sehr ungewöhnlich und nicht typisch für das israelische Verteidigungssystem.
Laut Fenigson wurden israelische Soldaten, die für den Gazastreifen vorgesehen waren, aus «Sicherheitsgründen» im Westjordanland stationiert. Laut der israelischen Zeitung Haaretz genehmigte das Südkommando der IDF die Verlegung von drei Bataillonen, um die Truppen im Westjordanland über die Feiertage zu verstärken. Diese Entscheidung wurde «unter anderem aufgrund zahlreicher Vorfälle getroffen, die die Sicherheitsspannungen im Westjordanland in letzter Zeit verschärft haben». Ein solcher Vorfall war ein von Siedlern abgehaltenes Gebet in Hawara. Aufgrund dieser Truppenverlegung gab es keine Soldaten mehr, welche den Gazastreifen bewachten, so Fenigson.
Sie erinnerte daran, dass die IDF vor einem Jahr eine militärische Operation in Gaza durchführte. Das Ziel dieser Operation war es, die IDF auf Ereignisse wie den kürzlich stattgefundenen Terroranschlag der Hamas vorzubereiten. Es finden regelmässig militärische Übungen für solche Bedrohungsszenarien statt. Dies wirft für Fenigson ernsthafte Fragen über die israelischen Geheimdienste auf.
Zudem wurden vor zwei Jahren Untergrundbarrieren mit Sensoren installiert, um vor Terroristen zu warnen, die die israelische Grenze überqueren wollen. Fenigson stellte die Frage, wie es sein kann, dass eine der «fortschrittlichsten und modernsten Armeen» der Welt keine Reaktion zeigte, als die Hamas die Grenze und den Zaun überschritt.
Darüber hinaus erhielt Israel auch Warnungen aus dem Ausland über eine bevorstehende Terrorattacke. Laut The Times of Israel, behauptete am 9. Oktober ein ägyptischer Geheimdienstbeamter, dass Ägypten Israel vor möglichen Anschlägen gewarnt habe. Mehrfach wurde darüber gesprochen, dass «etwas Grosses» passieren würde. Diese Warnungen wurden jedoch von Israel heruntergespielt, so der Geheimdienstbeamte. Stattdessen konzentrierte sich Israel auf das Westjordanland:
Wir haben sie gewarnt, dass eine Eskalation der Situation bevorsteht und dass sie sehr bald und sehr gross sein würde. Aber sie haben diese Warnungen unterschätzt.
Der israelische Premierminister Netanjahu wies diesen Vorwurf zurück und bezeichnete ihn als «Fake News». Auch sein Büro dementierte dies in einer Stellungnahme:
Es kam keine frühe Nachricht aus Ägypten und der Premierminister hat seit der Regierungsbildung nicht mit dem Chef des Geheimdienstes gesprochen oder sich getroffen - weder indirekt noch direkt.
Dieses Dementi von Netanjahu und seiner Administration steht im Widerspruch zur Erklärung von Michael McCaul vom 12. Oktober. McCaul ist der Vorsitzende des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten des US-Repräsentantenhauses. Nach seiner Einschätzung warnte Ägypten Israel einige Tage vor dem Angriff:
Ich weiss nicht, wie wir es verpasst haben, ich weiss nicht, wie Israel es verpasst hat – ich weiss, dass Ägypten Israel drei Tage vor dem Angriff gewarnt hat.
Zudem behauptete McCaul, dass die Hamas den Anschlag seit einem Jahr plante. Es sei daran erinnert, dass laut Fenigson die IDF ebenfalls vor einem Jahr eine militärische Operation in Gaza durchführte, um sich auf terroristische Angriffe wie den der Hamas vorzubereiten. Wie passt das zusammen?
Am 28. Oktober äusserte Netanjahu in einer Pressekonferenz und danach in einem Post auf X Kritik an den israelischen Geheimdiensten. Er behauptete, dass er «zu keinem Zeitpunkt und unter keinen Umständen» über die Absichten der Hamas informiert wurde. «Im Gegenteil, alle Sicherheitsvertreter, einschliesslich des Chefs des Militärgeheimdienstes und des Chefs des Schin Bet, waren der Meinung, dass die Abschreckung gegen die Hamas wirksam ist und diese eine Verständigung anstrebt», meinte Netanjahu. Später entschuldigte er sich für die Vorwürfe, die er gegen die israelischen Geheimdienste erhoben hatte, und löschte den Post. Bedeutet das also, dass Netanjahu tatsächlich gewarnt wurde und von dem bevorstehenden Angriff wusste? Weshalb musste er die Vorwürfe zurücknehmen?
Es sollte auch darauf hingewiesen werden, dass das Manövrieren von Gleitflugkörpern und Gleitschirmen, welche beim Hamas-Angriff eingesetzt wurden, lange geübt werden muss. Solche Ausrüstungen können für einen Terroranschlag nicht ohne Vorbereitung eingesetzt werden. Wie konnte es passieren, dass der Mossad nichts von der Vorbereitung der Hamas-Terroristen im Gazastreifen bemerkt haben? Wie wusste die Hamas von dem perfekten Zeitpunkt, als die IDF alle ihre Truppen von Gaza ins Westjordanland verlegt hatte?
Israel als Geburtshelfer der Hamas
Wer sich tiefer mit der Entstehungsgeschichte der Hamas beschäftigt, wird feststellen, dass die israelische Regierung und Geheimdienste eine nicht unwesentliche Rolle bei der Gründung und Unterstützung der Hamas gespielt haben. Der Artikel «How Israel helped create Hamas» von der Washington Post aus dem Jahr 2014 bietet einen guten ersten Überblick über die Entstehungsphase.
Die Hamas entstand 1988 im Gazastreifen während der ersten Intifada, dem ersten grossen Aufstand der Palästinenser gegen Israel. Damals galt die Fatah-Partei von Yasser Arafat als Hauptfeind Israels. Die Fatah-Partei war ein wichtiger Teil der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), eine säkulare Bewegung, die anderen linken Guerillabewegungen ähnelte, welche während des Kalten Krieges aktiv waren. Die PLO führte Anschläge durch und entführte Menschen. Sie wurde von den benachbarten arabischen Staaten anerkannt, während Israel sie als Terrororganisation einstufte. Die PLO-Aktivisten in den besetzten Gebieten litten unter starker Repression durch den israelischen Sicherheitsapparat.
In der Zwischenzeit durften im Gazastreifen die Aktivitäten der Islamisten stattfinden, die zur verbotenen Muslimbruderschaft gehörten. Dies stellte eine deutliche Abkehr von der Zeit dar, in der Ägypten Gaza nach dem arabisch-israelischen Krieg 1967 an Israel verlor, als Israel das Westjordanland eroberte. Der ägyptische Staatspräsident Gamal Abdel Nasser liess Sayyid Qutb, einen führenden Intellektuellen der Muslimbruderschaft, hinrichten. Israel betrachtete Qutbs Anhänger in den palästinensischen Gebieten, einschliesslich des Scheichs Ahmed Yassin, als nützliche Gegenkraft zur Arafats PLO.
Yassin wurde von der militärischen Verwaltung Israels hoch geschätzt. Er trug zur Gründung zahlreicher Schulen, Kliniken und Kindergärten bei und richtete eine Bibliothek in Gaza ein. Er gründete die islamistische Organisation Mujama al-Islamiya, die von Israel als Wohltätigkeitsorganisation und 1979 als Verein anerkannt wurde. Israel unterstützte auch die Gründung der Islamischen Universität von Gaza, die heute als Brutstätte der Militanz eingeschätzt wird. Diese Universität war eines der ersten Ziele, die von israelischen Kampfjets während des Gaza-Kriegs (Operation Cast Lead) in den Jahren 2008 und 2009 angegriffen wurden. Aus der Mujama entstand später die Hamas, die von der Washington Post als Israels «Taliban» bezeichnet wurde: Eine islamistische Gruppe, deren Vorläufer vom Westen im Kampf gegen einen linken Feind unterstützt wurden.
Die Osloer Vereinbarungen von 1993 erkannten die PLO als offiziellen Vertreter Palästinas in Israel an und markierten den Beginn des Friedensprozesses. Danach wurde die Hamas zum Feindbild Israels. Die Hamas lehnte es ab, Israel anzuerkennen und von Gewalt gegen das Land abzusehen. Die Hamas wurde zu einer der führenden Organisationen im palästinensischen Widerstand gegen die israelische Besatzung.
Im Jahr 2004 wurde Yassin gezielt bei einem israelischen Luftangriff getötet. 2007 gewann die Hamas die Wahlen und übernahm die Regierung im Gazastreifen, was sowohl der Fatah-Partei als auch dem Westen missfiel. Infolgedessen verhängte Israel eine strenge Blockade und es entstand ein anhaltender, zermürbender Konflikt.
Zahlreiche Insider bestätigen: Israel hat die Hamas unterstützt
Viele offizielle Vertreter aus Israel, Palästina und den USA haben seit 1987 sich zur Entstehung der Hamas und zur Rolle Israels dabei geäussert. Im Folgenden werden einige dieser Insider-Aussagen zitiert.
Bereits 1986, ein Jahr vor der offiziellen Gründung der Hamas, schrieb David K. Shipler, der Jerusalem-Büroleiter der New York Times, dass Israel die islamische Bewegung im Gazastreifen unterstützte, aus der später die Hamas-Gruppe hervorgehen würde. In seinem Buch «Arab and Jew» zitierte Shipler den israelischen Militärgouverneur im Gazastreifen, Brigadegeneral Yitzhak Segev:
Politisch gesehen wurden islamische Fundamentalisten manchmal als nützlich für Israel angesehen, weil sie ihre Konflikte mit den säkularen Unterstützern der PLO hatten. Gewalt zwischen den Gruppen brach gelegentlich auf den Universitätscampussen des Westjordanlandes aus, und der israelische Militärgouverneur des Gazastreifens, Brigadegeneral Yitzhak Segev, erzählte mir einmal, wie er die islamische Bewegung als Gegengewicht zur PLO und den Kommunisten finanziert hatte. «Die israelische Regierung gab mir ein Budget und die Militärregierung gibt es den Moscheen», sagte er.
Shiple bekräftigte seine Aussagen während der israelisch-palästinensischen Krise im Mai 2021 in einem Brief an die New York Times, in dem er die aktive Beteiligung der israelischen Behörden hervorhob.
Nicholas Kristof hat recht, wenn er erwähnt, dass Israel einst den Aufstieg der Hamas als Gegengewicht zur Palästinensischen Befreiungsorganisation erlaubte. Aber Israel hat viel mehr getan als nur «zulassen»
1981 sagte mir Brigadegeneral Yitzhak Segev, Israels Militärgouverneur von Gaza, dass er der Muslimbruderschaft, dem Vorläufer der Hamas, auf Anweisung der israelischen Behörden Geld gab. Die Finanzierung sollte dazu dienen, die Macht sowohl von kommunistischen als auch von palästinensischen nationalistischen Bewegungen in Gaza, die Israel als bedrohlicher als die Fundamentalisten ansah, zu verschieben.
Einen verärgerten Anruf, den ich später vom Armeesprecher erhielt, deutet darauf hin, dass die Vorgesetzten von General Segev nicht glücklich über seine Offenlegung einer Praxis waren, die selbst zu dem Zeitpunkt nicht sehr clever aussah. Sie dachten fälschlicherweise - aber anscheinend wünschten sie es sich - dass er seine Kommentare nicht öffentlich gemacht hatte.
Die US-amerikanische Nachrichtenagentur UPI veröffentlichte im Februar 2021 einen Artikel, in dem sie beschreibt, wie Israel die Hamas massiv unterstützte. Im Artikel wurden aktive und ehemalige Regierungs- und Geheimdienstbeamte der Vereinigten Staaten zitiert:
Israel und Hamas mögen derzeit in tödlichen Kämpfen [der Zweiten Intifada] gefangen sein, aber laut mehreren aktuellen und ehemaligen US-Geheimdienstmitarbeitern gab Tel Aviv ab Ende der 1970er Jahre direkte und indirekte finanzielle Unterstützung an Hamas über einen Zeitraum von Jahren.
Israel «unterstützte Hamas direkt - die Israelis wollten es als Gegengewicht zur PLO verwenden», sagte Tony Cordesman, Nahost-Analyst für das Center for Strategic Studies. (...)
Die Unterstützung Israels für Hamas «war ein direkter Versuch, die Unterstützung für eine starke, säkulare PLO durch eine konkurrierende religiöse Alternative zu teilen und zu verwässern», sagte ein ehemaliger hochrangiger CIA-Beamter. (...)
Die Mittel für die Bewegung kamen aus den ölproduzierenden Staaten und direkt und indirekt aus Israel, laut US-Geheimdienstbeamten. Die PLO war säkular und linksgerichtet und förderte den palästinensischen Nationalismus. Hamas wollte einen transnationalen Staat unter der Herrschaft des Islams einrichten, ähnlich wie Khomeinis Iran. (...)
«Einige Mitglieder der rechtsgerichteten israelischen Establishment dachten, dass Hamas und die anderen Gruppen, wenn sie die Kontrolle erlangen würden, nichts mit dem Friedensprozess zu tun haben wollen und alle getroffenen Vereinbarungen torpedieren würden», sagte ein US-Regierungsbeamter. «Israel wäre immer noch die einzige Demokratie in der Region, mit der die Vereinigten Staaten zu tun hätten», sagte er. (...)
Der ehemalige Beamte des Aussenministeriums für Terrorismusbekämpfung, Larry Johnson, sagte der UPI: «Die Israelis sind ihre eigenen schlimmsten Feinde, wenn es um den Kampf gegen den Terrorismus geht. Sie sind wie ein Kerl, der sich die Haare anzündet und dann versucht, es auszuschlagen, indem er mit einem Hammer darauf schlägt. Sie tun mehr, um Terrorismus zu schüren und aufrechtzuerhalten, als ihn einzudämmen.»
Im Dezember 2002, während der Zweiten Intifada, gab Yasser Arafat, der Führer der PLO, grossen italienischen Medien Interviews, in denen er über die Entstehung und Aktivitäten der Hamas sprach. Das sagte er gegenüber der Zeitung L'Espresso:
«Hamas wurde mit Unterstützung Israels gegründet. Das Ziel war es, eine Organisation zu schaffen, die sich der PLO entgegenstellen würde. Sie erhielten Finanzierung und Ausbildung von Israel. Sie haben weiterhin von Genehmigungen und Autorisierungen profitiert, während wir eingeschränkt waren, sogar beim Bau einer Tomatenfabrik. Rabin selbst beschrieb es als einen schweren Fehler. Einige Kollaborateure mit Israel sind an diesen [Terror] Angriffen beteiligt», sagte er. «Wir haben Beweise und wir machen sie der italienischen Regierung zugänglich.»
In einem anderen Interview mit dem Corriere della Sera äusserte sich Arafat wie folgt:
«Wir tun alles, um die Gewalt zu stoppen. Aber Hamas ist eine Kreatur Israels, die zur Zeit von Premierminister [Yitzhak] Shamir [Ende der 1980er Jahre, als die Hamas entstand], ihnen Geld und mehr als 700 Institutionen gab, darunter Schulen, Universitäten und Moscheen. Sogar [der ehemalige israelische Premierminister Yitzhak] Rabin hat es schliesslich zugegeben, als ich ihn darauf ansprach, in Anwesenheit von [dem ägyptischen Präsidenten Hosni] Mubarak.»
Robert Dreyfuss, ein US-amerikanischer Investigativjournalist, veröffentlichte 2006 ein Buch mit dem Titel «Devil's Game: How the United States Helped Unleash Fundamentalist Islam». In diesem Buch untersuchte er die Rolle Israels bei der Unterstützung von Islamisten, wobei er Charles Freeman, einen amerikanischen Diplomaten und ehemaligen US-Botschafter in Saudi-Arabien, zu Wort kommen liess.
«Israel hat die Hamas gegründet», sagt Charles Freeman, der erfahrene US-Diplomat und ehemalige US-Botschafter in Saudi-Arabien. «Es war ein Projekt des Shin Bet [der israelische Inlandsgeheimdienst], der das Gefühl hatte, dass sie es nutzen könnten, um die PLO einzudämmen.»
Laut einem Memo, das 2014 von WikiLeaks veröffentlicht wurde, zitierte der US-Botschafter in Israel im Juni 2007 - zur Zeit der Schlacht von Gaza - den israelischen Chef des Verteidigungsgeheimdienstes, Amos Yadlin:
Obwohl dies nicht unbedingt einen Konsens der GOI [Regierung von Israel] widerspiegelt, sagte Yadlin, Israel wäre «glücklich», wenn die Hamas den Gazastreifen übernehmen würde, weil die IDF dann mit Gaza als einem feindlichen Staat umgehen könnte.
Mehrere israelische Beamte, die in Gaza tätig waren, kamen im Januar 2009 in der US-amerikanischen Zeitung The Wall Street Journal zu Wort:
«Hamas ist leider Israels Kreation», sagt Avner Cohen, ein in Tunesien geborener Jude, der mehr als zwei Jahrzehnte in Gaza gearbeitet hat. Verantwortlich für religiöse Angelegenheiten in der Region bis 1994, beobachtete Herr Cohen, wie die islamistische Bewegung Gestalt annahm, säkulare palästinensische Rivalen beiseite schob und sich dann in das heutige Hamas verwandelte, eine militante Gruppe, die auf die Zerstörung Israels eingeschworen ist. Anstatt von Anfang an die Islamisten in Gaza einzudämmen, sagt Herr Cohen, tolerierte und ermutigte Israel sie jahrelang als Gegengewicht zu den säkularen Nationalisten der Palästina-Befreiungsorganisation und ihrer dominanten Fraktion, Yasser Arafats Fatah. Israel kooperierte mit einem verkrüppelten, halbblinden Geistlichen namens Sheikh Ahmed Yassin, auch als er die Grundlagen für das, was Hamas werden würde, legte. (...) «Wenn ich auf den Verlauf der Ereignisse zurückblicke, denke ich, dass wir einen Fehler gemacht haben», sagt David Hacham, der Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre als Experte für arabische Angelegenheiten in der israelischen Armee in Gaza arbeitete. «Aber damals dachte niemand an die möglichen Ergebnisse.» (...)
Ein Anführer der islamistischen Fraktion von Birzeit zu dieser Zeit war Mahmoud Musleh, jetzt ein pro-Hamas-Mitglied einer palästinensischen Legislative, die 2006 gewählt wurde. Er erinnert sich, wie normalerweise aggressive israelische Sicherheitskräfte zurücktraten und eine Eskalation zuliessen. Er leugnet jede Absprache zwischen seinem eigenen Lager und den Israelis, sagt aber, «sie hofften, dass wir eine Alternative zur PLO werden würden.»
Im März 2019 erklärte der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu während eines Likud-Parteitags seine Taktik, Katar die fortlaufende Finanzierung der Hamas in Gaza zu gestatten, um eine Isolation Gazas vom Westjordanland zu erreichen, heisst es in einem Bericht der Zeitung Haaretz vom 9. Oktober 2023:
«Jeder, der die Gründung eines palästinensischen Staates verhindern will, muss die Stärkung der Hamas und die Überweisung von Geld an die Hamas unterstützen.» (…) «Dies ist Teil unserer Strategie - die Palästinenser in Gaza von den Palästinensern im Westjordanland zu isolieren.»
Der ehemalige israelische Verteidigungsminister Avigdor Liberman legte im Februar 2020 offen, dass Premierminister Netanjahu Katar heimlich aufgefordert hatte, die Finanzierung der Hamas fortzusetzen:
Mossad-Chef Yossi Cohen und der Spitzenoffizier der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte, der für Gaza zuständig ist, Herzi Halevi, besuchten Anfang dieses Monats auf Anweisung von Premierminister Benjamin Netanjahu Katar, um dessen Führer zu bitten, ihre periodischen Zahlungen an die Hamas fortzusetzen, behauptete der Chef der Partei Yisrael Beytenu, Avigdor Liberman, am Samstagabend.
«Sowohl Ägypten als auch Katar sind wütend auf die Hamas und planten, die Beziehungen zu ihnen abzubrechen. Plötzlich tritt Netanjahu als Verteidiger der Hamas auf, als wäre es eine Umweltorganisation. Das ist eine Politik der Unterwerfung unter den Terror», sagte er und fügte hinzu, dass Israel der Hamas «Schutzgeld» zahlte, um die Ruhe aufrechtzuerhalten. (...)
Mit der Zustimmung Israels hat Katar seit 2018 periodisch Millionen von Dollar in bar an die Hamas gezahlt, um Treibstoff für das Kraftwerk des Streifens zu bezahlen, der Gruppe die Bezahlung ihrer Beamten zu ermöglichen und Hilfe für zehntausende verarmte Familien zu leisten.
Im Oktober 2023, nach dem Angriff der Hamas auf Israel, äusserte Yossi Beilin, der ehemalige Aussenminister Israels und Mitgestalter des Oslo-Abkommens von 1993, in einem Interview mit dem ZDF:
Ja, kein Zweifel, niemand zweifelt daran. Ich hoffe, nicht einmal er selbst. Es ist ein riesiges Versagen, etwas, an das man sich für immer erinnern wird. Sich zu brüsten und zu sagen, ich bin Mister Sicherheit, ist Quatsch. Es war Netanjahu, der die Hamas gestärkt hat. Nicht unterstützt, natürlich. Aber zwischen PLO und Hamas hat er immer die Hamas bevorzugt, weil sie keine Zwei-Staaten-Lösung will.
Die Hamas fordert keine Teilung des Landes, sondern das ganze Land. Deshalb war es einfacher, mit ihnen zu arbeiten als mit der «Nationalen Bewegung», die eine Teilung des Landes fordert und eine Zwei-Staaten-Lösung anstrebt.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die israelischen Nachrichtendienste aktiv an der Gründung und Finanzierung der Hamas beteiligt waren. Ihr Hauptziel war es, die Gründung eines palästinensischen Staates zu verhindern und eine Zwei-Staaten-Lösung zu untergraben. Sie verfolgten mehrere Ziele, darunter die Schwächung der PLO, die Verhinderung der Umsetzung der Osloer Vereinbarungen und die Legitimierung israelischer Gegenangriffe.
Mittlerweile hat die PLO massiv an politischem Einfluss gegenüber extremistischen Kräften wie der Hamas verloren. Auch der Oslo-Friedensprozess rückte im Zuge des Ausbruchs der zweiten Intifada in weite Ferne.
Massive Proteste gegen Netanjahu
Wichtig zu erwähnen ist, dass Netanjahu bis vor kurzem in seinem Land stark unter Druck stand. Über 100’000 Mensche protestierten in Tel Aviv und anderen israelischen Städten gegen die Politik seiner Regierung. Der Auslöser war eine umstrittene Justizreform, die das Oberste Gericht Israels daran hindern würde, gegen Entscheidungen der Regierung vorzugehen. Die Netanjahu-Administration argumentierte, das Gericht sei zu mächtig und es müsse ein Gleichgewicht zwischen Judikative und Exekutive hergestellt werden.
Israels Generalstaatsanwältin, Gali Baharav-Miara, forderte Netanjahu auf, sich nicht an der Justizreform zu beteiligen, da ein möglicher Interessenskonflikt bestehen würde. Die Pläne könnten Netanjahu in seinem laufenden Korruptionsprozess nützen. Netanjahu wurde wegen Betrug, Untreue und Bestechlichkeit angeklagt.
Bis zum Zeitpunkt des Angriffs der Hamas war die Bevölkerung in Israel extrem gespalten. Einige argumentieren sogar, dass das Land kurz vor einem Bürgerkrieg stand. Der Terroranschlag führte jedoch zu einer Art Burgfrieden. Jetzt steht das Land geschlossen gegen einen gemeinsamen Feind. Der Fokus der Öffentlichkeit liegt nicht mehr auf der Justizreform und den Korruptionsvorwürfen gegen Netanjahu.
Totalversagen oder Vorsatz?
Wir halten fest: Sicherheitsexperten, wie Efrat Fenigson, weisen darauf hin, dass es unmöglich ist, dass die IDF und die israelischen Geheimdienste nichts von einem bevorstehenden Angriff der Hamas wussten. Sowohl von amerikanischer als auch von ägyptischer Seite wurde bestätigt, dass Israel im Vorfeld gewarnt wurde. Netanjahu beschuldigte zunächst seine Nachrichtendienste, ihn nicht rechtzeitig vor dem Terroranschlag gewarnt zu haben. Später zog er jedoch seine Beschuldigung zurück. Die Rücknahme seiner Vorwürfe lässt die Frage offen, ob die israelischen Nachrichtendienste doch vom Angriff wussten. Viele Insider-Aussagen von offiziellen Vertretern aus Israel, den USA und Palästina bestätigen, dass die israelischen Geheimdienste an der Gründung und Unterstützung der Hamas beteiligt waren. Noch im März 2019 machte sich Netanjahu für fortlaufende Finanzierung der Hamas in Gaza stark. Das primäre Ziel der israelischen Geheimdienste war und ist es, einen palästinensischen Staat und damit eine Zwei-Staaten-Lösung zu verhindern. Netanjahu stand kurz vor dem Angriff in seinem Land unter extremem Druck. Mehr als 100’000 Menschen demonstrierten in ganz Israel gegen die von seiner Regierung geplante umstrittene Justizreform. Darüber hinaus steht er aufgrund von Korruptionsvorwürfen vor einer Anklage. Der Angriff führte dazu, dass die Justizreform und die Korruptionsvorwürfe gegen Netanjahu nicht länger im Fokus der israelischen Öffentlichkeit stehen. Stattdessen steht die extrem gespaltene Bevölkerung nun vereint gegen einen gemeinsamen Feind.
Weshalb wurde der Terrorangriff der Hamas von der IDF und den israelischen Geheimdienste zugelassen? Ist er auf Totalversagen und Unfähigkeit Israels zurückzuführen? Oder muss die LIHOP-Hypothese (Let it happen on purpose) in Erwägung gezogen werden? Wurde der Angriff absichtlich zugelassen, um einen Gegenangriff in Gaza zu rechtfertigen und damit die Torpedierung der Zwei-Staaten-Lösung zu zementieren? Nutzte die Netanjahu-Administration die «Gunst der Stunde» und liess den Anschlag zu, um von den innenpolitischen Problemen abzulenken?
Sicherheitsexperten wie Jacques Baud halten dies für ein mögliches Szenario. Baud war Oberst der Schweizer Armee und Analyst im Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst. Zudem arbeitete er für die UNO und die NATO. Seine Ausbildung erhielt er von US-amerikanischen und britischen Nachrichtendiensten. Im Interview vom 9. November 2023 mit dem deutschsprachigen Radiosender Kontrafunk schloss Baud nicht aus, dass die Regierung von Netanjahu den Angriff der Hamas absichtlich zugelassen hat:
Ja, das ist ein mögliches Szenario, obwohl die israelische Regierung das verneint. Wissen Sie, Netanjahu ist jetzt in Schwierigkeiten zu Hause. Er hat seit Monaten Demonstrationen. Er ist politisch in Schwierigkeiten. (...) Man muss eine äussere Bedrohung haben. Und dann wird die Nation wieder hinter der Regierung stehen. Es könnte sein, dass Netanjahu solche Berechnungen angestellt hat. Das wäre denkbar.
Ob Israel tatsächlich den Angriff vorsätzlich zugelassen hat, kann hier nicht abschliessend beantwortet werden. Es muss jedoch unbedingt gründlich untersucht werden. Es gab zu viele Ungereimtheiten, um die LIHOP-Hypothese einfach kategorisch abzulehnen. Sie muss nicht zutreffen. Vielleicht haben das israelische Militär und die Geheimdienste an diesem Tag tatsächlich versagt, ohne dass ein machiavellistisches Motiv dahintersteckt. Ein Zitat, das angeblich Napoleon zugeschrieben wird, besagt: «Man soll niemals Böswilligkeit für etwas verantwortlich machen, was sich durch Inkompetenz erklären lässt.» Die zahlreichen Indizien, die in diesem Beitrag erläutert und zusammengetragen wurden, weisen allerdings darauf hin, dass die LIHOP-Hypothese ernsthaft untersucht werden sollte und nicht einfach als absurde «Verschwörungstheorie» abgetan werden darf.
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Ursprünglich schrieb ich von bis zu 150 Geiseln. Eine Leserin hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass inzwischen von 240 Geiseln die Rede ist. Herzlichen Dank für die Korrektur an dieser Stelle.